Verbotene Liebe

Mohammed Qumtur kochte vor Wut. Die Wanduhr im golden verzierten Plastikgehäuse zeigte fast halb zehn. Auch der bunt illustrierte Garten Eden hinter den Zeigern mit seinen Bächen, die durch Gärten in prallstem Grün fließen, konnte ihn so gar nicht runterbringen.
Wie so oft der Grund für seine Missstimmung: Dshamilja, seine älteste Tochter. Nach sieben Uhr abends hatte jede seiner drei Töchter zu Hause zu sein. Pünktlich zum Abendessen, noch eine Runde Fernsehen und dann ab ins Bett.
In Mohammeds Personalausweis stand der Name des Propheten nicht. Die KP Chinas hatte es den Uiguren schon vor Jahren untersagt, ihren Kindern Vornamen mit eindeutig islamischem Bezug zu geben. Mohammeds Eltern hatten sich dem Druck gebeugt und Sheng in das Taufregister eintragen lassen. Doch zu Hause wurde er immer mit dem Namen des Propheten angesprochen. Und er hatte es bei seinen Töchtern nicht anders gehalten. Für Dshamilja hatte er den Namen Meiming eintragen lassen.
Endlich drehte sich der Schlüssel im Haustürschloss. Mohammed sprang, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, auf und rannte zur Tür. Wortlos packte er seine Tochter am Arm und zog sie ins Wohnzimmer. Die Tochter ließ es widerstandslos geschehen.
Das Wohnzimmer bestand nur aus Sofas und Tischen, nicht höher als 45 Zentimeter. Hier pflegte sich Mohammed mit seiner weitverzweigten Verwandtschaft zu treffen, wenn es etwas zu feiern gab oder der Familienrat zur Beratschlagung einberufen wurde. Natürlich nur die männlichen Familienmitglieder. Die Weiber hatten sich in der Küche zu treffen.
Mohammed platzierte seine Tochter neben sich auf einem der Diwane.
»Wo warst du?«, fragte er streng.
Dshamilja riss sich aus der Umklammerung, wissend, dass ihr Vater sie freigeben würde.
»Du weißt es. Im Yao Mo Shan Park, wie immer.«
»Wieder mit diesem ungläubigen Bastard?«
Dshamilja nickte stumm.
»Ich hatte es dir verboten.«
Das Mädchen blickte ihrem Vater trotzig in die Augen, hielt seinem Blick tapfer stand. Doch sie schwieg. Noch. Die Uhr tickte.
»Du kannst es mir so oft verbieten, wie du möchtest. Ich liebe Tian und ich werde unsere Liebe weiterleben.«
Die Ohrfeige, die es jetzt setzte, war nicht besonders schmerzhaft. Dafür umso erniedrigender. Denn Mohammed pflegte, ganz anders als die Verwandten und Freunde, seine Kinder nur äußerst selten zu züchtigen.
Die Auseinandersetzung hatte die Mutter aufgeweckt und zwang sie ins Gesellschaftszimmer. Die Tatsache, dass ihr Mann Dshamilja geschlagen hatte, ließ sie Schlimmes erahnen.
»Mohammed, was ist los?«
Im tiefsten Innersten bereute dieser, dass er zum ultimativen Mittel der körperlichen Maßregelung gegriffen hatte. Doch das permanente Infragestellen seiner Autorität als Vater und Familienvorstand traf ihn tief. Die Vorstellung, dass die anderen Männer ihn für schwach hielten, sich in der Moschee hinter seinem Rücken über ihn lustig machten, nagte entsetzlich an ihm. Schlimmer noch: Auch die Züchtigung ließ Dshamilja wort- und widerstandslos über sich ergehen. Und Mohammed wusste, dass er sie hätte einsperren müssen, um zu verhindern, dass sie sich weiter mit diesem Han-Chinesen traf.

~

Abdullah Niyaz drückte das Gaspedal seines Mercedes voll durch. Der nahm den Beschleunigungswunsch mit kurzer Verzögerung an. Das Automatikgetriebe hatte zwei Gänge herabschalten müssen. Doch dann zeigte der schwarze GLC, was in ihm steckte: Die 476 Pferdestärken unter der Haube katapultierten den SUV nach vorne. Innerhalb von Sekunden zeigte der Tacho über 150 Stundenkilometer.
Nicht, dass die enge Landstraße einen solchen Zahn wirklich hergegeben hätte, aber Abdullah musste seiner Euphorie einfach freien Lauf lassen. Noch dazu kannte er die Straße wie seine Westentasche. Er fuhr sie beinahe täglich, denn die meisten der Bauern, denen er seine Landmaschinen verkaufte, hatten ihre Höfe hier, im Norden von Ürümqi. So rechnete er fest damit, dass zur Zeit des Mittagsgebets die Straße frei sein würde. Sie führte eh schnurstracks geradeaus, war über Kilometer einzusehen.
Der Sound seines Handys, »Blume des Ostens«, ein Ohrwurm aus seiner Jugend, lenke seine Euphorie über den Deal, den gerade klargemacht hatte, in eine andere Richtung. Riss ihn aus den Tagträumen darüber, was er mit den über 50000 Yuan anstellen würde. Wie er in einer der Animierbars in Ürümqi die Sau rausließe. Am anderen Ende der Leitung die Heiratsvermittlerin, Frau R-Go. Auf dieser Dame ruhten alle seine Hoffnungen, den geschäftlichen Erfolg auch durch den privaten abrunden zu können.
Das Handy verfing sich im Saum seiner Jackentasche. Jodelte unverdrossen weiter »Blume des Ostens«, das unüberhörbare Signal dafür, dass er Frau R-Go in der Leitung hatte. Doch es ließ sich dem klammernden Saum seine Jacketts nicht entwinden. In Abdullah kochte der Zorn hoch. Grundlos, denn die Melodie verriet ihm ja, wen er da in der Leitung hatte. Ein Rückruf, sobald das Jackett sein Handy freigegeben hatte, war völlig problemlos.
Doch nicht für Abdullah. Niemals hätte er irgendjemandem zugestanden, dass ihn 150 Sachen auf einer engen Landstraße mit Schlaglöchern und eine widerspenstige Jackentasche in Bedrängnis bringen könnten. Es entsprach so gar nicht dem Bild, das er von sich selbst zu zeichnen pflegte. Für sich und hauptsächlich für seinen Dunstkreis. Dem Bild, alles im Leben fest im Griff zu haben. Dem Griff seiner Eisenfaust.
Doch wie er es auch drehte und wendete, die Tasche wollte das Handy nicht freigeben. Nur ein Schlagloch am Rande der Fahrbahn rettete ihm das Leben. Der Rumms, der den schweren SUV erzittern ließ, als der wuchtige Reifen des rechten Vorderrades in den Krater einschlug, riss ihn aus dem Ringen mit seinem Oberkleid.
Wenige Millisekunden später regierend wäre er direkt an einem Baum gelandet. Doch der Rumms ließ ihn sein Augenmerk wieder auf die Straße richten, von der er gerade mit Höchstgeschwindigkeit abzukommen drohte. Abdullah konnte den Reflex, das Lenkrad gehörig herumzureißen, nicht unterdrücken. Gut so, denn die Bekanntschaft mit dem Baum vor ihm hätte sicherlich absolut fatal geendet.
Doch im Eifer des Gefechts blieb die Dosierung auf der Strecke. Was nur einer mäßigen Kurskorrektur bedurft hätte, wuchs sich zu einem radikalen Kurswechsel aus. Der überforderte auch das elektronische Stabilisierungssystem des Wagens. Nicht, dass die Software der Mercedes-Benz Group Schlaglöcher und panische Fahrer nicht hätte handeln können, aber das momentan verbaute Steuergerät vom Autoteileflohmarkt in Ürümqi arbeitete nur widerwillig mit dem straff abgestimmten Fahrwerk zusammen.
Nach dem Richtungswechsel schoss der Wagen auf die Gegenfahrbahn. Und das nicht schnurstracks, sondern eher gefährlich schwankend. Selbst Abdullahs Über-Ego konnte es nicht verhindern, dass er gehörig in die Eisen stieg. Nicht besonders schlau, denn die verzögernden Reifen stabilisierten den Kurs des Gefährts nicht. Führten im Gegenteil dazu, dass der Wagen noch weiter in Richtung gegenüberliegender Straßenseite abdrehte. Endlich gelang es Abdullah, trotz der starken Schwankungen seines Mercedes, das Lenkrad nicht nur dazu zu benutzen, sich festzuhalten, sondern auch gegenzusteuern. Trotzdem touchierte der SUV einen mittelgroßen Findling am linken Straßenrand.
Ein Glücksfall für den übermütigen Fahrer, denn der Aufprall schlug seinem Wagen eine ordentliche Delle in den linken Türschweller und die Fahrertür. Verhinderte dadurch aber, dass der Wagen gänzlich von der Straße abkam und sich überschlagend in der Pampa landete. Der Rumms: ohrenbetäubend. Die Party im Club würde also ausfallen müssen.
50 Meter weiter kam der Landmaschinenhändler zum Stehen. Er rollte schwer atmend auf den Meter Seitenstreifen, den die Erbauer neben der Straße aufgeschüttet hatten. Diesmal, ganz nach Fahrstunde, auf der rechten Seite der Fahrbahn.
Die gute Stimmung war dahin und der kühne Fahrer sich nicht sicher, ob er die Tür auf seiner Seite noch würde öffnen können, wollte es auch nicht ausprobieren. Saß da nur und blickte in Schockstarre auf die verlassene Landstraße vor sich.

~

Dshamilja wäre niemals auch nur im Entferntesten auf die Idee gekommen, mehr als nur das absolut Notwendigste mit Tian zu sprechen. Oder aber gar ein Schwätzchen mit ihm anzufangen. Zu tief waren die Gräben zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Vertretern der Zentralregierung, die sie nur als Besatzungsmacht sahen. Mehr als grüßen und ein knappes »Ja-Nein« tauschte man mit denen einfach nicht aus. Das lernten auch die Han-Chinesen schnell, die für gutes Geld und faule Versprechungen in die Provinz versetzt wurden. Sie versuchten ebenfalls, unter sich zu bleiben. Einerseits, weil sie keine Wahl hatten, andererseits weil auch sie wenig Interesse verspürten, sich mit den Menschen vor Ort einzulassen. Die so anders wie sie selbst.
Tian rumpelte mit Dshamilja, die er nur als Meiming kannte, auf der Youhao N Straße zusammen. Sie hatte mehrere Male auf der Stadtverwaltung wegen einer neuen ID-Karte vorgesprochen. Mal war das Foto zu unbiometrisch, mal die beglaubigte Kopie nicht beglaubigt genug. Mal ein Stempel nicht sauber gestempelt. Tian hatte die Antragstellerin immer wieder abweisen müssen. So auch bei der letzten Vorsprache. Diesmal stimmte angeblich die Postleitzahl der Meldeadresse nicht. Dshamilja alias Meiming, war reichlich desillusioniert. Warum war die Postleitzahl nicht schon beim letzten Mal moniert worden?
»Aber verehrter Herr, die Postleitzahl ist korrekt. Das Haus unserer Familie steht dort seit Generationen.«
»Frau Qumtur, das kann nicht sein. Das System verweigert die Eingabe. Die Postleitzahl existiert nicht.«