Kapitel 1: Ende eines HQ

Kommuniqué 2336 des KI-Clusters an die Mitbürger biologischen Ursprungs

In einer koordinierten Aktion von automatisierten Bodentruppen und Kampfdrohnen gelang es den Verbänden Gemeinschaft-Mensch-Maschine, einen gezielten Schlag gegen die Aufständischen zu führen und dabei deren Kommandozentrale in der Bergwelt der Provinz F. fast vollständig zu zerstören. Es wird davon ausgegangen, dass ein wesentlicher Teil der Infrastruktur lahmgelegt wurde und die Kommandoebene weitgehend eliminiert werden konnte.

Die Kommandoaktion begann um exakt drei Uhr morgens Ortszeit. Eine Schwadron von Ortungsdrohnen überflog das Gebiet in der Nähe der Nepper im nach dem Fluss benannten Tal. Dank der hochauflösenden Optik und der Wärmebildkameras konnten die gut versteckte Kommandozentrale exakt lokalisiert und die Zugangswege genauestens ausgekundschaftet werden.

An diesem Punkt wurde die zweite Phase der Operation in Gang gesetzt. Kampfroboter des Typs 15 wurden zusammen mit rein biologischen Kämpfern in einer umfassenden Landeoperation im Zielgebiet abgesetzt. Aufgrund der detaillierten Aufklärungsdaten gelang es den hybriden Kampfverbänden innerhalb kürzester Zeit, einige der Aufständischen zu eliminieren und die Mehrzahl gefangen zu nehmen. Es wurde eine Unmenge an Waffen und Gerätschaften, darunter ein komplettes Feldlazarett, beschlagnahmt. Trotz des Erfolges der generalstabsmäßig geplanten und durchgeführten Aktion konnte der Anführer der Aufständischen, wenn auch wahrscheinlich schwer verwundet, den Kommandoeinheiten entkommen. Er und seine letzten Verbündeten konnten sich in Richtung Uldtal, einer schwer zugänglichen Bergregion im Süden, absetzen.

 

Ich begegnete dem General, wie es sich für einen Freiheitskämpfer ziemt: In der Schlacht. Das Hauptquartier, das wir vor nicht mal zwei Monaten im Neppertal eingerichtet hatten, war von maschinellen Kräften aufgespürt und angegriffen worden. Viel schien von ihm nicht mehr übrig geblieben zu sein. Wie so oft eben.

Meine Zelle und ich hatten bis dahin die Aufgabe, einen der Trampelpfade, die zum Hauptquartier führten, zu sichern und gegebenenfalls zu melden, wenn sich etwas tat. Wie immer hatten wir aber nichts zu melden. Der Angriff kam völlig überraschend. Erst als der Beschuss begann, kriegten wir mit, was los war. Wir sahen die drei Hubschrauber vom Typ Q, die die Bodentruppen, meist biologische Maschinensklaven, Kollaborateure also, einflogen. Um uns nicht zu verraten, unternahmen wir keinen Versuch sie zu bekämpfen. Wir hätten eh keine Chance gehabt und es war sowieso schon zu spät.

Wir waren gerade dabei, die Habseligkeiten, die unseren Vorposten ausmachten, zusammenzuklauben, als eine der Wachen Alarm gab. Ein paar Schüsse, hektisch abgefeuert, fielen, glücklicherweise richtete keiner von ihnen irgendwelchen Schaden an. Schnell wurden Rufe laut, die uns klarmachten, dass wir auf unsere eigenen Leute schossen.

Nachdem die Flüchtlinge sich sicher waren, dass wir sie als solche erkannt hatten, kamen sie näher und wir sahen mit Entsetzen, um was für einen elenden Haufen es sich handelte. Erschreckend auch, wer bei dem versprengten Grüppchen dabei war.

Es waren ein paar Dutzend Kämpfer, wenn überhaupt. Sieben von ihnen waren so schwer verletzt, dass sie getragen werden mussten. Was die Fortbewegung im Gelände entscheidend erschweren würde. Aber auch die, die sich noch ohne Hilfe auf den Beinen halten konnten, waren ziemlich mitgenommen. Die, die nicht Kameraden auf Bahren hinterherschleppten oder auch nur schleiften, waren auch meist irgendwie in Mitleidenschaft gezogen. Zwei von ihnen brachen, als sie uns sahen, einfach nur in sich zusammen. Jetzt mussten also neun Kameraden transportiert werden.

Kaum einer der Entkommenen trug etwas bei sich, was nach Bewaffnung oder einer Form von Ausrüstung aussah. Die meisten der Kameraden hatte ich vorher noch nie zu Gesicht bekommen. Eine Frau, die ich ebenfalls noch nie gesehen hatte, stürmte auf mich zu.

„Hast du hier das Kommando?“

Respekteinflößend sicher, aber einfach nicht meine Vorstellung von Weiblichkeit. Frauen hatte ich schon seit vielen Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen, trotzdem war ich so sehr Soldat, dass ich dem Gedanken keine weitere Priorität einräumte. Der Kevlarhelm, den sie sich fest um den Kopf geschnallt hatte, gab nicht zu viel von ihrem Gesicht frei. Auch die grünen und schwarzen Streifen, die sie sich ins Gesicht geschmiert hatte, erfüllten ihre eigentliche Aufgabe, nicht zu viel preis zu geben. Die linke Augenbraue hatte etwas abbekommen. Die Wunde nässte noch etwas, eine getrocknete Blutspur zog sich ihre Wange hinab. Trotzdem strahlte ihr eher schmales Gesicht die Power aus, die sie verkörperte. Die Gesichtszüge fast unnatürlich ebenmäßig, die grünblauen Augen standen in völligem Kontrast zu ihrem verschmierten Gesicht. Sofern es nicht Tarnfarbe war. Man musste einfach stutzen. Auch mein Blick blieb an ihren Augen hängen.

Ich bin nicht besonders groß geraten. So konnte ich ihr direkt in die Augen schauen, ohne meinen Blick senken zu müssen. Ihr Körperbau ganz der der Amazone. Breite Schultern, über denen sich die Tragegurte eines voll gepackten Rucksacks spannten. Die muskulösen Arme trugen eine Panzerfaust. Sie war eine der wenigen, die etwas Ausrüstung hatte retten können. Die kräftigen Hände umklammerten die schwere Waffe.

Militärstiefel sind nun mal keine Stilettos. Ihre Füße steckten in riesigen Knobelbechern. Ein weiterer unpassend blöder Gedanke. Wie kann eine Frau solche Quadratlatschen haben? Oder hatte sie die Dinger nur angezogen, weil sie in der Eile nichts anders gefunden hatte? Soldat, der ich war, verdrängte ich den Gedanken. Es wäre mir auch gar nichts anderes übrig geblieben.

Die Frau war ohne Zweifel außergewöhnlich. Die zwei Sterne auf ihrer Schulter machten mir klar, dass sie einiges zu melden hatte. Aber auch ohne die zwei Sterne hätte sie nicht gezögert, mir zu vermitteln, wer hier das Sagen hatte. Vielleicht lag es genau daran, dass auch in Zukunft die Chemie zwischen uns nie so richtig stimmen sollte. Sicher einer der Gründe, warum sie es geschafft hatte, in einer fast völlig von Männern dominierten Organisation bis ganz nach oben zu kommen. Sie wusste, wie man befiehlt.

„Leutnant Schulz, wir kontrollieren den Pfad nach G.“

„Wie viele Männer befiehlst du?“

„Sieben, aber was ...“

Ihr Blick befahl mir zu schweigen. „Waffen?“

„Vier Maschinenpistolen, eine Panzerfaust, zwei Mörser, Munition. Wo werden wir uns sammeln?“

„Die Fragen stelle ich. Medizinische Geräte, Erste-Hilfe-Kits?“

„Nur das Notwendigste. Aber wir können …“

„Die Maschinenpistolen bekommen er, er, er und er. Deine Leute übernehmen den Transport des Materials. Wer ist dein Sanitätsoffizier?“

„Das bin ich. Meine Männer werden ihre Waffen nicht einfach so abgeben.“

„Sie werden. Dafür wirst du sorgen.“

Sie ließ die Panzerfaust in den Tragegurt fallen. Aus ihrem Gürtel zog sie einen Revolver. Hatte was von einer Spielzeugpistole. Was mir die Stimmung aber versaute, war die Tatsache, dass sie mir das Ding direkt unter die Augen hielt.

„Los jetzt, wir haben keine Zeit!“

Während ich in den Lauf des Revolvers blickte, näherte sich uns einer ihrer Leute. Vielleicht hat das mir das Leben gerettet. Noch hielt ich es für einen Bluff.

„Frau Oberst, John und Deng können nicht mehr weiter. Wir müssen sie sofort versorgen und dann tragen. Wir brauchen jeden Mann.“

„Erdmann, kümmere dich um den da. Wir müssen sofort weiter.“

Die Frau steckte den Revolver wieder in den Gürtel. Sie entledigte sich ihres Gepäcks und der Panzerfaust. Rannte den Trampelpfad zu den zwei Zusammengebrochenen hinab. Erdmann wandte sich mir zu und versuchte mit mir, den weiteren Abzug zu organisieren. Besser gesagt er probierte, mir ein paar Informationen aus der Nase zu ziehen. Zu gesprächig war ich nicht, wegen der Knarre eben. Erdmann, wohl auch weil wir beiden denselben Rang bekleideten, zückte keine, um mich zu Zugeständnissen zu zwingen. Nicht nur deshalb machte er einen angenehmeren Eindruck auf mich. Innerhalb von zwei, drei Minuten hatten wir uns über die Modalitäten des Abzugs und die Aufgabenteilung geeinigt.

Eigentlich wäre es als Sanitäter meine Aufgabe gewesen, mich um die Zusammengebrochenen zu kümmern. Zugegebenermaßen unprofessionell, dass ich es nicht tat, aber aus dem Augenwinkel sah ich, dass eine Gruppe der Neuankömmlinge, begleitet von den harschen Anweisungen der Frau Oberst, versuchte, den Zustand der beiden zu bewerten und hoffentlich geeignete Maßnahmen zu ergreifen.

Trotzdem dachte ich in dem Moment, als sich Erdmann von mir absetzte, um das Besprochene umzusetzen, darüber nach, ob ich mich einmischen sollte. Meine Reflexionen wurden jäh unterbrochen. Zwei Schüsse ließen mich reflexartig Deckung suchen.

 

~

 

Die Initialzündung für KI war die flächendeckende Einführung des Internets kurz vor der Jahrtausendwende gewesen. Die globale Vernetzung hatte Möglichkeiten zum Austausch von Informationen geschaffen, die nicht nur die zwischenmenschliche Kommunikation, sondern eben auch den Wissenstransfer zwischen Systemen revolutionierten.

Im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends waren die Fortschritte im Bereich der Künstlichen Intelligenz nicht mehr zu ignorieren. Und jeder, der als Global Player etwas auf sich hielt, setzte alles daran, mitzumischen. Hier entstand der Markt der Zukunft. Eine der wesentlichen Voraussetzungen war die sich exponentiell steigernde Rechnerleistung und deren Komprimierung auf engstem Raum. Auch die bahnbrechenden Erfindungen im Bereich der Kommunikationstechnik und völlig neue Werkzeuge wie Satellitennavigation, Spracherkennung und Textverarbeitung schlugen ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte auf.

Die Fähigkeiten der Apps waren aber im Bereich der Schnittstelle Mensch-Maschine immer noch rudimentär, sodass ein großer Teil des Potenzials noch brach lag. Viele Displays waren bei sonnigem Wetter nicht mehr zu entschlüsseln. Sprachausgaben entweder zu leise oder so laut, dass der ganze Gastronomiebetrieb, in dem man sich gerade aufhielt, mitkriegte, dass man mit Mutti telefonierte.

Auch die Antwortzeiten der Systeme stellten die Geduld der Nutzer immer wieder auf eine harte Probe. Was manchmal in Windeseile vonstattenging, konnte im entscheidenden Moment Ewigkeiten dauern.

KI-Menüs stellten immer die gleichen blöden Fragen. Und die dann in Apps, die ganz tolle Sachen konnten, sich halt nur nicht auf dem Smartphone installieren ließen, dass man gerade benutzte.

Auch die Akkus bereiteten dem interessierten User massive Probleme. Was nützt einem das E-Ticket, wenn das Handy auf dem Flughafen genau in dem Moment abkackte, als die Schleuse direkt vor einem nach dem Ticket verlangte.

Ganz großes Kino war die Frage der Sicherheit. Trotz intensivster Bemühungen der Programmiergemeinde erwies sich kein System als wirklich sicher. Immer wieder gelang es gewieften Nerds, die Firewall zu umgehen und Unmengen von Daten abzugreifen. Oft musste man auch gar nicht so richtig auf Zack sein. Es reichte, die Unachtsamkeit der Nutzer auszunutzen, die in vielen Fällen an Fahrlässigkeit kaum zu überbieten war. Sich für jede Anwendung ein immer anderes Passwort wie „''+**gpürzet183742§$§$$“ zu kreieren, stellte manche User vor unlösbare Probleme. Es entwickelte sich zu einem der größten Wettbewerbsvorteile, wie gut man das IT-System seines Gegenspielers infiltrieren und gegebenenfalls lahmlegen konnte.

Einige der systemischen Fehler gelang es zu eliminieren, andere blieben aufgrund der Masse von Usern eher Randerscheinungen und mit vielen fand man sich schlichtweg ab. Nach dem Motto: „Ist mir doch egal, wenn mein Nachbar weiß, dass ich gelbe Unterhosen trage.“

Alles in allem vereinfachte KI das Leben in einem Maße, dass kaum ein Mensch darauf verzichten wollte. Bus, S-Bahn oder Vorstadtzug, jeder daddelte auf seinem Handy oder Notebook. Wer es nicht tat, outete sich schnell als Abgehängter. Oder als jemand, der vergessen hatte, seinen Akku ans Ladegerät zu hängen.